Wie in jedem Jahr erinnerte die SPD Neugraben-Fischbek am 9. November vor der Gedenktafel am Neugrabener Markt an die Opfer des NS-Unrechts. Vorstandsmitglied Nils Steffen, zugleich Historiker an der Universität Hamburg, sprach über die deutsche Erinnerungskultur in Gegenwart und Zukunft. Die wesentlichen Passagen veröffentlichen wir im Folgenden:
„Ungefähr 400 Menschen wurden ermordet oder in den Suizid getrieben. Über 1.400 Synagogen und Betstuben sowie etwa 7.500 Geschäfte und Wohnungen wurden zerstört, jüdische Friedhöfe wurden geschändet. 30.000 jüdische Männer wurden in Konzentrationslager verschleppt. Hunderte von ihnen überlegten dies nicht. Diese war erschütternde Bilanz der Ereignisse aus der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, der Reichspogromnacht.
Wenn wir heute an die Gewaltmaßnahmen am 9. und 10. November 1938 erinnern, müssen wir sie im Kontext der Radikalisierung des Antisemitismus im nationalsozialistischen Deutschland sehen. In der Erinnerung gilt das Jahr 1938 als Übergang von psychischer zu physischer Gewalt – als Startpunkt zum Holocaust oder wie die Nazis es später zynisch verklärten: zur „Endlösung der Judenfrage“. In Neugraben-Fischbek finden wir keine direkten Spuren der Reichspogromnacht. Hier wurden keine Synagogen geschändet, keine jüdischen Geschäfte verwüstet, keine Menschen ermordet. Wir könnten erleichtert aufatmen und denken: Inmitten der reichsweiten Gewalt war unser beschauliches Neugraben eine Insel des Friedens. Doch wäre dies ein Trugschluss: Auch hier waren die Wahlergebnisse für die NSDAP sehr früh sehr hoch. Auch hier gab es genügend Unterstützer*innen, die die ausgrenzende, diskriminierende und rassistische Politik der Nazis befürworteten, vertraten und sogar umsetzten. Symbol dieser Politik waren die Lager, von denen seit 1943 auch in Neugraben-Fischbek einige zu finden waren: zum Beispiel das KZ-Außenlager von Neuengamme mit 500 tschechischen Jüdinnen sowie zwei Arbeitslager am Falkenbergsweg sowie das Offlag im Rostweg, ein Kriegsgefangenenlager für belgische Offiziere.
Dass wir heute insbesondere über das KZ-Außenlager und die dort internierten Frauen so viel wissen und dass ihrem Gedenken auf der Gedenktafel am Neugrabener Markt ein Teil der Neugrabener Öffentlichkeit werden konnte, verdankt der Stadtteil der Forschungslebensleistung von Menschen wie Heiner und Karin Schultz, Gunther Buck und anderen, die in mehr als 40 Jahren nicht nur historischen Spuren nachgegangen sind, sondern den Kontakt zu Überlebenden gesucht und gefunden haben. Wenn wir uns heute erinnern können, dann können wir das nur, weil engagierte Menschen viel Zeit und Herzblut investiert haben.
Und das ist vielleicht eine wichtige Erkenntnis: Erinnern braucht Zeit und Herzblut. „Nie wieder!“ ist schnell gesagt. Ein flotter Spruch deutscher Erinnerungskultur, den die meisten sofort unterschreiben würden. Nie wieder Nationalsozialismus, nie wieder Faschismus, nie wieder Antisemitismus. Das sind Wünsche. Aber bekanntermaßen sind es nicht Wünsche, die die Welt verändern, sondern Taten.
Erinnern braucht engagierte Menschen, die nicht nur sich selbst erinnern, sondern auch ihr Umfeld. Die aktiv werden und laut sind. Erinnern bedeutet, die Geschichte wach zu halten, damit wir heute daraus lernen können, wie wir morgen miteinander leben wollen. Denn ich möchte nicht morgen aufwachen und sehen, wie die Unterkünfte meiner syrischen Nachbarn brennen. Ich möchte nicht erleben, wie tausende Menschen ohne Rücksicht auf die Gefahren aus Deutschland abgeschoben werden. Ich möchte nicht Zeuge einer Gegenwart werden, in der Antisemitismus, Rassismus oder Homophobie zum „guten Ton“ der Gesellschaft gehören.
Ein solidarisches und respektvolles Miteinander, das in meinem Wertekanon so völlig alternativlos ist, ist es in unserer Gesellschaft leider nicht. Wir erleben und beobachten tagtäglich Hass, Ausgrenzung, Neid und Missgunst. So viele argumentieren leise mit „wir“, aber schreien laut „ich“! Ich habe zu wenig, ich werde benachteiligt, ich bekomme nicht das, was mir zusteht. Das „Ich“ ist immer lauter als das „Wir“. Aber als Demokraten ist es unsere Aufgabe, das „Wir“ nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und für Respekt, Solidarität und wechselseitige Wertschätzung zu werben. Und dabei zählt jede einzelne Stimme.
Aber ich verstehe auch, wenn zum Beispiel Jugendliche oder Menschen mit Migrationsgeschichte heute sagen: Was hat die Geschichte des Nationalsozialismus mit mir zu tun? Warum soll ich mich daran erinnern? Die Antwort darauf fällt mir leicht: Weil es mit uns allen zu tun hat. Unrecht, Ausgrenzung und Rassismus sind keine Spezifika des Nationalsozialismus. Sie tauchen immer wieder auf in Geschichte und Gegenwart.
Die wichtige Frage ist aber doch: Warum haben diese Menschen keinen Bezug zu den etablierten Formen unserer Erinnerungskultur? Ich denke, weil wir sie nicht einladen, eine eigene Haltung zu entwickeln. Unsere deutsche Erinnerungskultur – so vorbildlich sie lange war und in Teilen ist – läuft Gefahr zu ritualisierten Pflichtterminen im Jahreskalender zu werden: Die immer gleichen Menschen kommen an den immer gleichen Tagen zusammen und sprechen über die immer gleichen Ereignisse aus der Vergangenheit.
Stattdessen brauchen wir eine Erinnerungskultur, die dynamisch und vielfältig ist. Welche Ereignisse bewegen beispielsweise die Generation der Gastarbeiter? Oder die Geflüchteten aus Syrien und der Ukraine? Wie und an wen wollen wir in einer Zeit erinnern, in der es keine Zeitzeug*innen mehr gibt? Wir müssen Brücken bauen, Fragen stellen, zuhören und offen sein. Wenn uns das gelingt, ist die Erinnerungskultur ein lebendiges Band, das uns in der Demokratie zusammenhalten kann.“